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Erfurt, 26. April 2002, Gutenberg-Gymnasium
Gebrochenes Schweigen

„Warum?“ war vor zwei Jahren die losgelöste, Anklage gewordene Frage nach dem Unfassbaren. Ein Jahr danach stand die Frage noch fast genau so lähmend über der Stadt und den Menschen, die darin wohnen. Inzwischen ist es anders. Das Schweigen scheint gebrochen. Nicht unmaßgeblichen Anteil daran hat Ines Geipel mit ihrem Anfang 2004 erschienenem Buch „Für heute reichts – Amok in Erfurt“. Das Buch führte in Erfurt zu heftigen Reaktionen. 1)

Plötzlich war die Diskussion über das Ereignis neu eröffnet. Zwischen den lähmenden Fragen nach dem Warum, die keine Antworten bringen, kommen konstruktive Gedanken auf. Die Lehrerin Marion Weber vom Gutenberg-Gymnasium  äußerte bei der Lesung am 21. Januar 2004 in der Erfurter Kaufmannskirche einen solchen Gedanken: Sie möchte den Schmerz, den das Buch ihr beifügt, ertragen, wenn als Ergebnis der Diskussion Menschenleben gerettet werden können. Noch klarer formulierte es ein Erfurter, der seinen Freund beim Massaker verloren hat, bei einem Gespräch mit Ines Geipel am 24. April 2004: Wir brauchen keinen Jahrestag zum Gedenken, wir müssen täglich so leben, dass so etwas nicht wieder passiert.

Erfurt hat eine Aufgabe. Nicht Antworten auf die Frage „Warum?“ sind wichtig. Wichtig ist: „Was tun wir, damit so etwas nicht wieder passieren kann?“. Da gibt es viel zu tun.

Zum Beispiel sollten wir den Journalisten erklären, dass „Keiner konnte gerettet werden“ 2) im Fall Gutenberg in keine Schlagzeile gehört. Schlimm genug, dass nicht ausreichend versucht wurde, die Opfer zu retten. Unsere Gesellschaft brüstet sich auch noch mit der Ausrede, es hätte keiner gerettet werden können. 

Sehenswert ist der Dokumentarfilm „Amok in Erfurt“ von Thomas Schadt und Knut Beulich. In ihm werden bemerkenswerte Gedanken geäußert. Eric Langer 3) stellt fest, dass wir unser Leben verwalten, aber nicht mehr gestalten. Er meint, dass wir, die Gesellschaft, jeder Einzelne anfangen müssen, es besser zu machen. Wir können diese Aufgabe nicht an unsere gewählten Volksvertreter abgeben. Utta Wolff 4) fordert, die Eltern zu befähigen, die emotionale Verwahrlosung der Kinder nicht geschehen zu lassen.

Der Film gibt Einblick in die emotionale Verwahrlosung unserer Gesellschaft, insbesondere in die der Familie Steinhäuser. Aber auch die Äußerung eines Sportschützen 5) „gegen kriminelle Energie kann man nichts unternehmen“ macht betroffen. Leben wir doch noch im Neandertal? 

Thüringens neuer, jung-dynamischer Landesvater Dieter Althaus wagte nach dem Buch von Ines Geipel die Flucht nach vorn und setzte eine Untersuchungskommission ein, die nach Ankündigung am 1. April 2004 einen 371-seitigen Bericht drei Wochen später doch noch veröffentlichte 6). Die nächsten Wochen werden zeigen, ob und welche Konsequenzen daraus gezogen werden. Derzeit wird die Verantwortung der Direktorin Christiane Alt diskutiert. Sie mag Fehler gemacht haben und in ihrer Amtsführung mag umstritten sein, nach dem 26. April 2002 bis heute hat sie Beachtliches geleistet. Wäre sie das Bauernopfer, so sollte doch auch die Verantwortung der Verfasser des Thüringer Schulgesetzes von 1993 hinterfragt werden, die insbesondere Gymnasiallehrer in unsinnige Handlungsnöte bringen. 7)

Die Bürger Erfurts haben noch eine weitere wichtige Aufgabe. Nach zwei Jahren wäre es langsam an der Zeit, einen Ort und eine Form des Gedenkens zu finden für die 16 Mitbürger, die von einem Menschenschlächter aus ihrem Leben und damit aus unserer Gemeinschaft gerissen wurden. Das Ungeheuer, welches aus unserer Mitte kam, sollte jedoch an diesem Ort keinen Platz finden. Es wäre unwürdig.

Hagen Frey
25. April 2004

1) Eine Auswahl von Meinungen zum Buch habe ich unter der Überschrift „Schrei nach Stillstand“ zusammengefasst (->).
2) Die Zeit Nr. 18, 22. April 2004, S. 11, Liane von Billerbeck (->)
3) Eric T. Langer, Lebensgefährte der getöteten Lehrerin Birgit Dettke
4) Utta Wolff, Ehefrau des getöteten Lehrers Peter Wolff 
5) Hans Gülland, Vizepräsident des Thüringer Schützenbundes im Dokumentarfilm "Amok in Erfurt"
6) Bericht der Kommission Gutenberg-Gymnasium (->), Thüringer Justizministerium (->)
7) 2. Beratung zum Thüringer Schulgesetz im Plenarprotokoll 1/89 vom 16.07.1993, S. 6711-6740 (->), siehe auch Parlamentsdatenbank Thüringer Landtag www.parldok.thueringen.de
 


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