Erfurt, 26. April 2002, Gutenberg-Gymnasium
Predigt von Landesbischof Prof. Dr. Christoph Kähler:
(Quelle: Thüringer Staatskanzlei, www.thueringen.de)
Liebe Angehörige! Liebe Trauergemeinde!

„Du sollst nicht töten!“ Dieses Gebot gilt seit ältesten Zeiten. Es gilt heute ebenso: Du sollst nicht deine Lehrerin töten und nicht deinen Mitschüler! Du sollst keinen Älteren ermorden – und – du sollst auch nicht dein eigenes Leben zerstören! Denn: „Wenn ein Mensch getötet wird, stirbt eine ganze Welt“ – sagt ein jüdisches Sprichwort.

Kinder trauern um Eltern, Eltern um Kinder, Frauen um Männer, Männer um Frauen, Kolleginnen um Kollegen und Freunde. Jedes Opfer war Teil einer ganzen Welt. Diese ist jetzt schwer verletzt, ja zerstört. Deshalb: Du sollst nicht töten, denn Leben ist heilig. Nicht durch uns wird es heilig, sondern durch den, der es uns schenkt, durch Gott. Er will, dass wir Leben schützen und am Leben bleiben – gegen alle tödliche Grausamkeit. Aber warum geschieht dann so Schreckliches, das eine ganze Schule, eine ganze Stadt, ein ganzes Land getroffen hat? Es reicht offenbar nicht, zu sagen „Du sollst nicht töten!“, obwohl es nicht oft genug gesagt werden kann und im Alltag bis in die Spiele hinein eingeübt werden kann. Es reicht nicht, Gerichte zu haben und Polizei. Es reicht nicht, Schuldige zu finden und zu bestrafen. Das kann und soll alles zu seiner Zeit sein, wenn es Schuldige gibt. 

Aber es reicht nicht aus, darum sagt Jesus: „Mord beginnt im Herzen“ – unsichtbar. Dann setzt er sich im Kopf fest. Der Mord beginnt in meinem und in deinem Herzen. Er beginnt mit der Wut, der Enttäuschung. Er äußert sich im Schimpfwort und kann schließlich im einsamen Hass münden, der andere zur Zielscheibe macht. Aber, so werden Sie fragen, ist es nicht eine Zumutung, am Tag der Trauer und des Entsetzens; an dem Tag, an dem wir uns um die Angehörigen der Opfer sammeln; an dem Tag, an dem sich das Mitleid Ausdruck sucht; an dem Tag, an dem wir zusammenstehen und uns stützen wollen; ist es da nicht eine Zumutung, den Blick auf diese Abgründe, auf den Anfang in uns selber zu richten? Wir waren es doch nicht. Unter uns sind die tief betroffenen Verletzten. 

Doch, es gibt keinen einfachen Trost. Wir sind es den Opfern schuldig. Prüfe sich jeder selbst und erspare sich nichts. Nur wer die Augen nicht vor sich selber verschließt, kann anders handeln und mit anderen zusammen Leben gewinnen. Es ist gut, wenn wir Blumen und Kerzen auf den Domstufen niederlegen. Es war das Nächstliegende, dass ihr Schüler und Lehrer euch in die Arme genommen habt, und dabei wurde viel Kleines und Kleinliches bedeutungslos. Es ist wichtig, wenn Zeichen der Trauer vor der Gutenbergschule stehen. Es sind Zeichen dafür, dass ihr beieinander bleibt, dass ihr nicht allein seid – in Trauer und Wut, in Verstörung und Angst. Es wird gut sein, wenn Zeichen der Erinnerung zu Hause, in der Schule, in der Stadt bleiben. Doch die wichtigste Folge wird sein: Ihr werdet aufeinander zugehen und feststellen, was zwischen euch steht; dann, wenn der Alltag allmählich wieder einkehrt. Dann, wenn neben der Trauer anderes Platz findet. Wir können nur gemeinsam leben. Leben gewinnen. 

Denn auch das Leben beginnt im Herzen und ergreift den Kopf, friedliches Leben, Leben, das den tödlichen Hass überwindet. Es beginnt – fast unmerklich – mit dem aufmerksamen Blick. Was fehlt dir? Es setzt sich fort, wenn Zeit für ein langes Gespräch ist, wenn Wut und Enttäuschung, Zorn und Bitterkeit ausgesprochen werden können; wenn ich meine eigene verborgene Schuld eingestehen und mein Gegenüber verzeihen kann; wenn so Geduld miteinander und Zuversicht wachsen können.

„Selig sind, die Frieden stiften.“ Auch dafür darf eine 17. Kerze brennen. Das ist – heute – eine Hoffnung gegen den Augenschein, es ist eine Bitte, ein flehendes Gebet an den, der uns Leben schenkt und uns begleiten will. Wir wenden uns an ihn: Verlass uns nicht in der tiefen Dunkelheit! Gib Trost, wo die Trostlosigkeit über uns zusammenzuschlagen droht! Hilf dort, wo nichts mehr zu helfen scheint! Schaffe Gerechtigkeit, verwandle den Tod in neues Leben! So, wie du es an Jesus von Nazareth sichtbar gemacht hast! So halten wir die Hoffnung fest, dass uns am Ende Gott erwartet. Er wird zu jeder zu jedem sagen: „Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein.“

Und dieser Friede Gottes bewahre eure Herzen, Sinne und Verstand. Amen